Samstag, 9. April 2011, 15:25 Uhr: Es ist angerichtet, alles ist bereit, es wird ernst. Das Üben der letzten Tage wird nun erstmals unter Wettbewerbsbedingungen sichtbar. Einige Sitzreihen unter mir gehen die Akteure so langsam in Position, die Anfangsmusik erklingt. Das Licht geht an: „Ja, so müsste es gehen!“ Die Hauptdarstellerin ist im Text, die erste Durchlaufprobe läuft und ich sitze am Lichtpult und versuche nebenbei die Musik zu managen. Auf meinem Platz im Max-Morlock-Stadion sitzt zur selben Zeit mein Bruder und wartet auf den Anpfiff. Ich sitze in einer Schulaula 11 Kilometer entfernt und leide bereits. Unter Müdigkeit, Heuschnupfen, gereizter Stimmung zwei Tage vor der Aufführung und – viel entscheidender in den kommenden 115 Minuten – unter der Tatsache, dass ich nicht sehe, was mein Club gegen den Erzrivalen auf den Rasen zaubert. Schon jetzt ist klar: Es wird ein anstrengender Nachmittag.

 

 

„Zieht denn heute noch irgendwer die Konsequenzen aus seinem Handeln?“ schallt es über die Bühne, wir üben versteckte Publikumsbeschimpfung. Es ist 15:36 Uhr. Soll ich schon mal aufs Handy schauen? Kann nicht schaden, oder? Den Blackout-Knopf für die Beleuchtung brauch ich nicht im Auge zu behalten, noch fünfundzwanzig Minuten ohne Licht aus. Also gut, schauen wir drauf. Soll ich mir jetzt eigentlich eine Meldung wünschen? Klar, am besten steht's jetzt schon 2:0 und Schweinsteiger ist mit Rot vom Platz. Aber realistisch gesehen, ist es doch eigentlich am Besten, wenn wir lang das 0:0 halten. Dann könnten … der Blick aufs Handy beendet alle Überlegungen. „1. FC Nürnberg – Bayern München 0:1 T. Müller (Robben), 5. Minute“ steht da, weiß auf blau. Jemand hat den Blackout-Knopf in Javier Pinolas Kopf gedrückt und Arjen Robben dann die Konsequenzen aus diesem Handeln gezogen.

 

Sofort beginne ich zu rationalisieren: Macht nix! Wer will Hannover in der Champions League? Wird ja mal wieder Zeit für ne Heimniederlage gegen die! Wir sind doch eh nicht in Form! Hoffentlich wird’s kein Fiasko! Nicht das ganze Wochenende in der Schule verbringen und dann am Montag auch noch Häme ertragen. Der Blick aufs Handy wird häufiger werden, schließlich ist der Druck auf das kleine weiße Viereck die einzige Möglichkeit für mich, irgendwie das Gefühl zu haben Einfluss zu nehmen. Mit jedem Drücken baut sich die Realität auf. Bis zu dem Zeitpunkt kann ich fantasieren, real ist es sobald ich drücke.

 

Real ist auch die Theaterprobe vor mir: „Irgendwer kommt immer zu Schaden! Fragt den da!“ keift eine Darstellerin und deutet dabei auf eine Flagge mit dem Konterfei von Che Guevara. Zur selben Zeit ist auf dem Platz schon einer zu Schaden gekommen: Ilkay Gündogan spielt bereits mit Gehirnerschütterung und auch bei uns gibt es erste Ausfälle. Eine Schauspielerin ist so verschnupft, dass wir sie auswechseln müssen. Sie fährt heim, kuriert sich aus, eine andere stellt sich mit Textbuch auf die Bühne. Die Möglichkeit hat Jens Hegeler, der für Gündogan nach 34 Minuten kommt, nicht, ran muss er trotzdem. Natürlich weiß ich dies in diesem Moment noch nicht. Es dauert aber nicht lange, da weiß ich all das. Da kann ich meine Nervosität nicht mehr mit einem einfachen Knopfdruck stillen. Knopfdruck, wisch, Bildschirm antippen und ich bin im Liveticker. Eigentlich wollte ich das nicht: Zu viel Ablenkung, zu viel Energieverschwendung. Doch irgendwie muss ich ja näher ans Geschehen, wenn ich schon nicht im Stadion sitze.

 

Das Stück läuft derweil routiniert weiter, es holpert noch manchmal, teilweise in der Kommunikation, teilweise im Aufbau. So ähnlich dürfte es im Stadion auch aussehen, wenn man dem Ticker glauben schenken darf. Nichts neues eben. Dann aber Großeinsatz für mich. Viele kleine Tonsequenzen müssen eingeblendet werden, dazu ständiger Farbwechsel im Licht. Fast vergesse ich für fünf Minuten, dass da in Nürnberg ein Fußballspiel läuft, doch nach dem Reglergeschiebe ist mein erster Blick doch wieder aufs Mobiltelefon. „Halbzeitstand: „1. FC Nürnberg – Bayern München 0:1“ steht da. Das heißt: Fünfzehn Minuten ohne Anspannung. Wenigstens das ist genau wie im Stadion. Doch im Gegensatz zu dort, wo jetzt die ersten 45 Minuten haarklein zerlegt werden, bleibt mir dazu keine Zeit, zumindest das Handy kann jetzt für eine Viertelstunde verschwinden. Der Blutdruck sinkt, doch ab 16:28 Uhr meldet er sich.

„Komm lass uns abhauen!“ wird sich auf der Bühne angeschmachtet und es spricht mir aus der Seele, irgendwie in Stadion beamen und doch die zweite Halbzeit sehen. Jetzt, wo man trotz des frühen Rückstands nicht eingebrochen ist. Jetzt, wo was geht. Jetzt, jetzt, jetzt. Doch jetzt sitze hinterm Mischpult und drehe das Licht auf rosa, um die romantische Stimmung zu betonen. Die herrscht im Stadion sicher nicht, bräuchte man dort eine Farbe, um die Gefühlslage zu betonen, man benötigte wohl rot, blutrot. Das Handy liegt inzwischen vor mir auf dem Tisch, damit ich jedes Aufblinken sofort sehe, ohne Verzögerung.

 

„Ich bin Schriftsteller, doch ich kann mir die Realität nicht so machen, wie ich sie mir gerne hätte!“ Auf der Bühne wird gerade dieser Satz gesprochen, als ich zum wiederholten Male in den Ticker gehe. „Nürnberg – München 1:1“ steht da plötzlich, rot auf weiß. Ich klicke schnell auf neu laden: Immer noch 1:1. Gut, noch mal zur Sicherheit. 1:1, 1:1! 1:1!! Ein Lächeln überzieht meinen Mund, ein klein wenig hüpfe ich auf und ab und gebe unkontrollierbare Laute von mir, die allen Anwesenden deutlich machen, dass da gerade ein Tor gefallen ist: Ein Tor für die Richtigen. Als ich dann noch die Beschreibung des Treffers lese, kann man mir mein fettes Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht schlagen.

 

Ab jetzt lege ich das Telefon eigentlich nicht mehr aus der Hand, den Sperrschirm lasse ich gar nicht mehr erscheinen. Auf der Bühne geht das Schauspiel ebenso in die Endphase wie im Stadion. Auf der Bühne beginnt die Situation zu eskalieren, die Szenenfolge wird schneller, der Inhalt aufgeregter, die Pistolen größer. 17:00 Uhr. Die Schlussszene beginnt, jetzt heißt es Koordination. In der rechten das Handy, mit der linken die Regler betätigen, das geht. Ich bin in Fahrt, die ständigen Botschaften von Großchancen machen mich zittrig. Die Anspannung wird nicht weniger durch die dramatische Musik, die nun die letzte Sequenz untermalt. Immer lauter wird sie, mein Herzschlag passt sich gefühlt dem der Musik an: Und immer wieder der Blick aufs Telefon.

 

17:10 Uhr: Die Probe ist zu Ende, das Spiel nicht. Einer der Spielleiter ruft die Akteure zusammen und gibt eine kurze Einschätzung des Geleisteten. Zufrieden sei man, einzelne Schwächen werden in den morgigen Proben ausgemerzt. So ähnlich könnte es auch Dieter Hecking nach dem Abpiff sagen, wenn denn das Spiel schon aus wäre, denke ich mir, während ich inzwischen sekündlich auf den Reload Button des Tickers drücke. Fast schon panisch versuche ich … ja was denn eigentlich … den Sieg herbeizuklicken? Zu erreichen, dass da nicht plötzlich 1:2 steht? Mich davor zu drücken eine Leiter zu suchen, um einzelne Scheinwerfer richtig auszurichten?

 

Physisch erschöpft, schwitzend, sinke ich auf einen Hocker im Bühnenbild, auf meinen Bildschirm erscheint ein kleines schwarzes Viereck, daneben das Wort „Endstand“. Es ist vorbei, geschafft, ein Punkt, wieder das Derby nicht verloren, Boden auf Platz 5 gut gemacht. Womöglich sogar Selbstvertrauen gewonnen. Endlich kann ich das Handy weglegen, es rutscht in meine Hosentasche und bleibt dort; die Akkuanzeige der einzige Hinweis auf das Drama, das sich hier gerade ereignet hat.

 

 

 

 

Nachtrag: Wer sehen will, ob mein notgedrungener Verzicht auf das Derby sinnvoll war und die Proben so erfolgreich wie Christian Eiglers Schuss in Richtung verwaistes Tor, der kann dies am kommenden Montag (11.4.) und Dienstag (12.4.), jeweils um 20 Uhr tun. Er muss dafür allerdings in die Westvorstadt reisen. Aufgeführt wird in der Aula der Max-Grundig-Schule in der Amalienstraße in Fü***. Gespielt wird Marlene Skalas "Räuber.Schiller für uns", eine Überarbeitung des klassischen Schillerdramas "Die Räuber", modernisiert und als "Räuberinnen"-Version angelegt. Der Eintritt beträgt nur 3€.

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